Jodhpur 11.03.

PROFESSOR HERMKES

Lieber Herr Professor Hermkes,

als Student hätte ich Sie selbstverständlich respektvoll mit: Sehr geehrter Herr Professor angesprochen. Aber im siebzigsten Jahr meines Lebens ist die strenge Distanz aufgehoben, so wie die Konturen in der Erinnerung verblasst sind. Vor dem Hintergrund der Wüste Thar werden plötzlich die Konturen Ihrer Gesichtszüge wieder lebendig , Ihre aufrechte Gestalt immer deutlicher, Ihr Korrekturstift zwischen
Zeigefinger und Daumen streicht mit der Hand über die vorgelegte Zeichnung, aber der Stift hinterlässt keine Spur. Sie waren kein strenger Lehrer. Ihr Urteil konnte man aus Ihren Andeutungen, manchmal nur eine unwirsche Bewegung der Hand, nur erahnen.

Ich war zu Ihrem Lehrstuhl gekommen, ohne es je vorgehabt zu haben.
Nach Berlin war ich gekommen, da mir das Urteil von Alex Kraemer nichts bedeutete, obwohl ich seine Architektur achtete und seine Freitags- Vorlesungen mit Aufmerksamkeit gehört habe. Ich wollte Scharoun und sein Umfeld kennen lernen, und ich wusste, dass er nicht mehr lehrte und ich habe ihn auch nicht mehr kennen lernen können, aber sein Umfeld hat großen Einfluss auf mich ausgeübt. Dem neu gegründeten Lehrstuhl Ungers stand ich mit großem Ressentiment gegenüber. Der gewollte Starkult lag mir nicht. Also wollte ich auf Empfehlung zum Lehrstuhl Kreuer, bis ich auf einem Aushang am schwarzen Brett der Architekturfakultät las: Studienfahrt mit dem Lehrstuhl Hermkes nach Mykonos, und zwar sofort. Und ich war dabei. Als Beifahrer eines Ihrer Assistenten mit seiner Gattin und einem Studienkollegen starteten wie in einem kleinen Auto, fuhren quer durch Jugoslavien und Griechenland bis Piräus, setzten mit dem ganzen Lehrstuhl nach Mykonos über. Ich bekam die Aufgabe, ein kleines Haus in Mykonos mit allen Detail aufzunehmen und zu zeichnen, Eine wundervolle Aufgabe, mit viel Freude unter den wachsamen Augen einer russischen Ärztin, die das Haus bewohnte,
schnell mit Erfolg durchgeführt. Und ich habe den Erfolg in der Sonne Griechenlands, am Strand des Ägäischen Meeres mit geschlossenen Augen genossen. Und als ich die Augen öffnete, sah ich Karina, meine Frau.

Ich weis nicht, ob Sie den Beginn meines neuen Lebens aus den Augenwinkeln beobachtet haben. Ich hätte Ihnen gern davon erzählt. Es hätte Ihnen Freude bereitet, wie ich heute glaube, soviel Freude, wie mir das Miterleben heute bereitet .Aber Ihrer Distinguiertheit verbot jede persönliche Annäherung.

An Ihrem Lehrstuhl in Berlin machte ich einen wunderschönen Entwurf eines Dorfes mit Hotel, einem gemeinsamen Ort für Griechen der Insel und Gästen, an einem Hang zum Meer in kleinteiligem Stil einer agglutinierenden Bauweise, wie es Professor Heinrich nannte, Sie

waren offensichtlich von dem Entwurf, meinen vielen Modellen in Ton und Pappe, meinen Freihandzeichnungen und meinen poetischen Erläuterungen , angetan, haben sich mir gegenüber nie geäußert, es nur in der Zensur dokumentiert. Belustigt haben sie ein heftiges Streitgespräch anhand eines Wochenwettbewerbes zwischen Ihrem Assistenten und mir über informelle Architektur verfolgt, aber Ihr Urteil blieb aus. Und dann offerierte ich Ihnen eine kolossale Arbeit: Ein Bahnhofsgebäude statt des Erddammes in Charlottenburg, einen neuen Bahnhof Charlottenburg in Spannbetonkonstruktion. Mit Ihrem Oberingenieur für Statik habe ich lange gerungen und präsentierte Ihnen in einer Korrekturstunde den Entwurf. Sie waren offensichtlich beeindruckt, wahrscheinlich auch von dem Mut Ihres jungen Studenten.

Und ich brauchte zum Examen noch ein Nebenfach und ging mit diesem Entwurf zu dem neu ernannten Professor Polonyi. Er wollte mir den Entwurf als Grundlage einer Statikaufgabe sehr zögernd und ohne auch nur einen Anflug von Zustimmung im Gesicht akzeptieren, da
stellte ich die Konstruktion infrage, und er begann mit mir eine engagierte Diskussion. Es wurde eine schlanke, elegante Konstruktion .Ich arbeitete die Nächte hindurch, um den Examenstermin einhalten zu können. Polonyi, mit dem ich später als Architekt zusammengearbeitet habe, half nach Kräften. Er korrigierte meine Arbeit alle zwei Tage. Und als ich stapelweise neue Pläne gezeichnet hatte, legte ich das Ergebnis meinem Entwurfsprofessor Hermkes vor. Der schob, ohne eine Miene zu verziehen, Blatt für Blatt auf dem großen Zeichentisch durch und sagte nur knapp: „ Sie waren bei Polonyi“

Der junge Professor Polonyi machte dem alten Professor Hermkes das Feld streitig. Und Professor Hermkes akzeptierte das Ergebnis in meiner Arbeit. Ich hatte Achtung vor der Aufrichtigkeit des Hanseaten!

Altbundeskanzler Schmidt hat am Grabe von Gräfin Dönhoff gesagt, sie sei der Inbegriff eines anständigen Menschen gewesen. Etwas Ehrenvolleres kann man gar nicht sagen. Ich lieferte eine architektonisch kümmerliche Diplomarbeit ab. Ich hatte mich vollständig verrannt, zeichnete nicht mehr frei Hand , sondern mit dünnen technischen Federn an der Reisschiene entlang am Konstruktionstisch für Ingenieure. Ich weis nicht, was in mich

gefahren war. Und mein Professor Hermkes akzeptierte auch diese Arbeit ohne Kommentar, nur mit einem Schatten auf der Benotung. Wahrscheinlich wurde der Fleiß mehr als die Qualität bewertet.

Und mein Professor Hermkes besorgte mir das Stipendium für eine Doktorarbeit, die ich gar nicht machen wollte. „ Dr.“ Corbusier , ein Schreckgespenst! Aber ein Stipendium für ein Zweitstudium – ich

wollte Stadtsoziologie studieren, um ein richtig ausgebildeter Stadtplaner zu werden- gab es nicht. Also schrieb ich über das Thema: Clusterbildung und Sozialstruktur.

Ich habe diese Arbeit nicht fertiggeschrieben, und in der Zeit mein Büro als freischaffender Architekt aufgebaut. Und Sie, lieber Professor Hermkes, haben mir beim Durchgang durch Ihren Garten um das neue Haus in Berlin, Mut gemacht.

Ich habe meine Scheu Ihnen gegenüber nie überwinden können. Ich habe nie Danke gesagt!

Ich bin, wen ich mit Ihnen wegen eines Termins telephonieren musste, stundenlang um den Apparat geschlichen und habe Gründe gesucht, erst am nächsten Tage anrufen zu können. Ich habe unter meiner Verklemmung gelitten. Und wenn ich Ihnen gegenüber stand, war ich der korrekte, wohlerzogene Student- als Doktorand habe ich mich nie gefühlt- voller Scheu und Zurückhaltung.

Irgendwann war ich dann mit meinen ersten Projekten so voll ausgelastet, dass ich die Arbeit an den städtebaulichen Clusterbildungen, obwohl hochinteressant , einstellte. Ich wollte im täglichen Geschäft erfolgreich sein. Das lockte mehr !

Ich habe Ihnen nie von meinen kleinen Erfolgen erzählt. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, ich konnte Ihnen gegenüber nur nicht so offen sein.

Ich glaube heute, es hätte Ihnen Spaß gemacht, mit zu erleben, was Ihr Student aus Mykonos so alles inszeniert hat, Ich weiß nicht, ob Sie je etwas erfahren haben. Ich habe geschwiegen,

und nicht mehr wegen eines neuen Termins angerufen. Das bedaure ich heute sehr!

Über Ihr Alter weiß ich auch nichts. Irgendwann ist Ihr Bild in meinem Leben abhanden gekommen. Jetzt, vor der Wüste Thar im siebzigsten Lebensalter sehe ich Sie wieder ganz deutlich! Seien Sie herzlich gegrüßt, wo Sie jetzt auch immer sind!

Übrigens: Die Problematik von städtebaulichen Clustern habe ich in meinem Berufsleben nie gelöst, auch nie als Aufgabe lösen müssen. Aber heute weis ich, wie treffend die Wahl dieses Themas gewesen ist, und wie wichtig eine Analyse und vor allem eine Vision gewesen wäre.

Aber wenn ich mich dem Thema ganz verschrieben hätte, hätte ich ein anderes Berufsleben führen müssen. Vielleicht wäre das andere Leben in seiner Abstraktheit theoretischer Stadtplanung noch fremder für mich gewesen als es mein praktisches Architektenleben war.

Jetzt ist es wohl zu spät, noch eine Doktorarbeit zu schreiben. Ich habe auch gar keine Zeit mehr dafür.

Aber danken möchte ich Ihnen, lieber Professor Hermkes, wenn auch so spät, dass Sie ein so nachsichtiger Lehrer für mich waren. Das Bild des aufrechten Hanseaten wird nicht mehr verblassen!