Agra 24.02.2008

FREIHEIT DER RASUR

Seit Popper es ausgesprochen hat, wissen wir es: „Leben heißt Probleme lösen“
Das morgendliche Rasieren ist jedes Mal der Versuch, sich die Freiheit des Handelns jeden Tag aufs Neue zu beweisen. Das Rasieren hat den Charakter einer Beschwörung, ist ein Ritus geworden:
Trotz der alles beherrschenden Gewohnheit wirst Du die Klinge heute anders führen, als es nach der gestrigen, vor-gestrigen, vor-vor-gestrigen Rasur zu erwarten wäre.
Es ist ein Irrtum , zu glauben, es gäbe eine perfekte Rasur, die man nur erlernen und einhalten müsste, um das Optimum an Lebensqualität beim Rasieren erreichen zu können. Der Genuss der Rasur liegt nicht in der Perfektion des Vorganges, einer Perfektion, die einen nur zum
Objekt eines irgendwie herbeigezauberten Managements eines Großkonzerns für Rasierschaumherstellung abstempeln würde. Nein! Der Genuss liegt in dem Auskosten der persönlichen Freiheit, die Klinge immer wieder in neuen Bahnen über das Gesicht zu führen,
und die Bartstoppeln auf immer neue Art zu vernichten, sie gegen oder mit dem Strich abzuschneiden und im Schaum untergehen zu lassen, abzuspülen und weg sind sie.
Es ist der morgendliche Ritus, der die Herrschaft über sein eigenes Handeln jeden Tag aufs Neue bestätigt. Popper ins eigene Leben umsetzt.
Die erste Entscheidung ist schon fundamental: Überhaupt rasieren ? Für wen Rasieren ? Ist es nicht viel angemessener, die eigenen Haut heute einmal zu schonen, als sie für irgendeinmal erfundenes Schönheitsideal zu traktieren ?. Es ist bestimmt ungesund, die eigene Haut zu schinden- und dann die Verwundungen, mögen sie noch so klein sein, mit chemisch aufgemotztem Balsam zu beruhigen, verbrämt durch Anrufung der Mitwirkung natürlicher Heilkräuter wie Kamille. Diese erste Entscheidung ist gravierend für die weitere Folge der
Akzeptanz der Notwendigkeit persönlichen Handelns.
Wenn man sich für die Konvention entschieden hat und zum Messer der Selbstverstümmelung gegriffen hat, ist die Frage zu klären: Wie gründlich die Rasur heute ausfallen muss. Wieder die Fragen: Für wen ? Warum ? Zu welchem Anlass ? etc. etc.
Dann die Entscheidung: Rechte Backe zuerst ,dann das Kinn, oder der Hals ? Es kann auch ratsam sein, erst über der Oberlippe zu beginnen ,um damit die Entscheidung über die Kotelettenlänge noch etwas hinaus zu zögern.Man hat jeden Morgen die freie Entscheidung, sein Gesicht neu zu präsentieren.Man kann auch wieder einen Bart stehen lassen und die Diskussion über schicklich oder unschicklich für diesen oder jenen Anlass neu entfachen. Ein Bart kann man sich schon einmal im Urlaub, zu mal wenn die Reise z.B. in den tropischen Urwald führt, stehen lassen., aber zu Verhandlungen über wichtige Projekte könnte es unangebracht sein, könnte sogar das Vertrauen in die eigene Person untergraben. Also eine gravierende schon vom Grundsatz vor jeder Rasur zu klärende Frage!
Es nützt nichts, sich auf Konventionen zu berufen. Das würde ja gerade die eigene Entscheidungsfreiheit in Frage stellen und an den Grundfesten der eigenen Persönlichkeit rütteln. Also muss schon diese erste Entscheidung in vollem Bewusstsein aller überschaubaren Konsequenzen getroffen werden. Schon am frühen Morgen zeigt sich, dass man nicht unbekümmert in den Tag hineinleben kann. Man würde seine Würde verlieren und Sklave von Gewohnheiten werden.
Andererseits spielen aber auch ökonomische Rahmenbedingungen mit in diese Gedankenwelt hinein. Die Rasurblätter , die man in die Gestelle einklemmt, - ungeheuer praktisch in der Anwendung gegenüber einem konventionellen Rasiermesser, das am Ledergurt vorher geschärft werden musste, um nicht größere Verwundungen zu hinterlassen- sind teuer.
Die Industrie schlägt natürlich vor, diese Blätter als Ein-Weg-Ware zu nutzen , d.h. sie schon nach dem ersten Gebrauch weg zu werfen.Aber natürlich sind diese Blätter nicht nach einmaligem Gebrauch abgenutzt, zu mal, wenn man das Bartgesicht vorher gut eingeschäumt hat. Also legt man Sorgfalt an den Tag. Das Gesicht vorher gut einzuseifen, oder es sorgfältig mit der moderneren Rasiercreme
einzubalsamieren , um Klingen zu sparen. Frage vor dem Rasieren. Wie oft habe ich diese Klinge in der Halterung schon benutzt : Frage an das Gedächtnis. Das Gedächtnis fühlt sich mit dieser für die großen Lebenszusammenhänge aus seiner Sicht ebenso unwichtigen Frage wie z.B. :Wo ist meine Brille geblieben? äußerst belästigt und verweigert die Antwort.
Es hilft also nur ein Probezug über den Bart, aber an welcher Stelle? Wenn es zu Verwundungen kommt – und man die Entscheidung in der Hand hat, an welcher Stelle man die Klinge ansetzen soll, wird man die unempfindlichste wählen. Welches ist die unempfindlichste Stelle?
Auch der Ruf: Das Frühstück ist fertig ! löst nicht die Problematik!
Diese muss selbst erkannt und selbst gelöst werden!
Irgendwann, wenn der Kaffeeduft betörend in die Nase steigt, überdeckt das :Ich komme!alle Probleme der Rasur. Schlag auf Schlag werden die Entscheidungen über alle notwendigen Handlungen getroffen , Taten vollbracht und die Rasur in dem Bewusstsein
ausgeführt , Herr über sein Leben zu sein und seine Entscheidungsfreiheit genossen zu haben.
Ein guter Morgen! Der Tag hat gut begonnen. Ich bin Herr der Lage !

Guten Morgen !